Gegendarstellung TCM Fernöstliche Heilmischung
Gegendarstellung zum Artikel
„Traditionelle Chinesische Medizin – Fernöstliche Heilmischung“ von Paul Unschuld, erschienen in der Süddeutschen Zeitung vom 15.12.07
http://www.sueddeutsche.de/wissen/904/426661/text/
Beim Lesen dieses Artikels von Paul Unschuld regte sich in mir stellenweise Zuspruch, da ich ihn aber insgesamt recht überzogen fand, vor allem auch Widerspruch. Deswegen möchte ich meine Gedanken dazu in ein paar Zeilen zum Ausdruck bringen. Leider liegt viel Wahrheit in dem, was Prof. Unschuld dort schreibt. Die chinesische Medizin ist im Zuge der Modernisierung während der Republikzeit und auch zu Beginn der Volksrepublik-Ära stark kritisiert und attackiert worden. Doch die darauf folgende Modernisierung der chinesischen Medizin hin zur so genannten Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) ist keine vollständige Neuerfindung derselben, wie Herr Unschuld es darstellt. Auch wenn die moderne chinesische Medizin heute erheblich von westlichem Gedankengut durchdrungen ist und so manche als unwissenschaftlich gebrandmarkten Bestandteile in offiziellen Lehrbüchern nicht mehr auftauchen, so basiert sie dennoch auf ihrer Jahrtausende alten Tradition. Auch wenn sie sich von manchen Überzeugungen distanziert hat, ist die TCM doch ohne ihre traditionelle Grundlage nicht denkbar. Also finde ich es nicht angemessen, die heute praktizierte chinesische Medizin auf weniger als 100 Jahre Existenzdauer zu datieren.
Bemerken möchte ich in diesem Zusammenhang vor allem, dass es trotz des politischen Bestrebens um Vereinheitlichung und Verwissenschaftlichung bis heute nicht DIE TCM gibt. Selbst im vereinheitlichten festlandchinesischen Medizingeschehen gibt es viele verschiedene Vertreter dieser modernisierten Form der chinesischen Medizin, die oft so modern gar nicht sind. Nicht wenige Ärzte haben sich dem Bestreben der Politiker nach Verwestlichung der Chinesischen Medizin verweigert. Gerade in den letzten Jahren bahnt sich in China meinem persönlichen Eindruck nach eine Renaissance der wirklich traditionellen chinesischen Medizin an. Nachdem nun in China im Zuge der wirtschaftlichen Liberalisierung de facto auch mehr Meinungsfreiheit besteht, nehmen immer weniger traditionell gesinnte Ärzte ein Blatt vor den Mund und artikulieren ihre Kritik an der Infiltration der chinesischen Medizin durch westlich-medizinisches Gedankengut. Dies spiegelt sich nicht nur in Publikationen wie „Sikao Zhongyi“ („Nachdenken über chinesische Medizin“) von Liu Lihong wieder, sondern auch in dem, was selbstdenkende Lehrkräfte an chinesischen Universitäten lehren und in ihren Praxen praktizieren. Zwar geht der Mainstream an chinesischen TCM-Universitäten in Richtung Verwestlichung und versucht mittels Tierexperimenten und statistisch untermauerten Studien die Effektivität von chinesischen Therapiemethoden zu belegen, doch gibt es eine nicht zu übersehende Minderheit von Ärzten und Professoren, die gegen diese Verwestlichung opponieren und auch bei ihren Studenten das Bewusstsein für die Schieflage der TCM schaffen und wachhalten. Ich persönlich habe während meines Medizinstudiums in Hangzhou, VR China, Lehrer dieser Art gefunden. Natürlich bin ich dort auch auf andere Vertreter der verwestlichten TCM gestoßen, aber, zumindest, wenn man längerfristig dort studiert, kann man sich seine Lehrer ja aussuchen. Doch andererseits glaube ich gern, dass viele Studenten von Kurzzeitpraktika in China enttäuscht oder frustriert zurückkehren, wie Herr Unschuld schreibt. Möglicherweise gibt es dort mehr Spreu als Weizen. Doch ich fürchte, dass dies schon immer so war.
Der Drang nach Bewahrung des „historischen Kerns der chinesischen Medizin“ kommt also nicht nur von uns aus dem Westen, sondern auch aus den Reihen der chinesischen Ärzte selbst, wobei sich diese beiden Seiten gegenseitig beeinflussen und diese erfreuliche Bewegung somit an Dynamik gewinnt. Ich persönlich sehe meine Erforschung der Signaturen der chinesischen Arzneimittel auch als einen kleinen Beitrag in dieser Bewegung. Dies ist auch ein als unwissenschaftlich betrachteter Aspekt der chinesischen Medizin, der heutzutage kaum noch diskutiert wird. Doch die klassischen Schriften sind voll mit Hinweisen darauf. Man braucht es nur zu lesen und herauszuarbeiten. So ist es mit allen anderen verdrängten Aspekten. In den alten Schriften ist alles zu finden! Die „Modernisierung“, „Verwissenschaftlichung“ und „Verwestlichung“ der chinesischen Medizin bezieht sich in erster Linie auf die modernen Lehrbücher und auf den offiziellen Uni-Betrieb. Doch wache Medizinstudenten, Ärzte und Professoren beschränken sich selbstverständlich nicht auf das Lesen von Lehrbüchern, sondern lesen die Klassiker und die Fallgeschichten alter Ärzte. Diese Werke sind nicht nennenswert zensiert worden! Und da die Modernisierung der chinesischen Medizin glücklicherweise ohne Bücherverbrennung verlief, bildet die tatsächlich traditionelle chinesische Medizin in all ihrer Pluralität auch tatsächlich das Fundament der modernen TCM.
Die klassischen Werke der chinesischen Medizin erleben in den letzten Jahren besonders viele Neuauflagen, was auch ein Indiz für das Wiederaufleben traditionellen Gedankengutes ist. Leider kommt die Übersetzung dieser Werke in westliche Sprachen nur sehr zögerlich hinterher. Doch so eklatant wie Unschuld schreibt, ist der Missstand auch nicht mehr. Zwar sind in der Tat viele Bücher über chinesische Medizin im Westen von Autoren geschrieben worden, die des Chinesischen nicht mächtig waren, doch gibt es auch mehrere Einflussreiche Autoren, wie z.B. Ted Kaptschuk, Dan Bensky, Steven Clavey und Volker Scheid, die die chinesische Sprache hervorragend beherrschen und sich in ihren Publikationen um eine unverfälschte Darstellung traditioneller Ansichten bemühen.
Es ist schließlich nur eine Frage des persönlichen Engagements, sich mit den klassischen chinesischen Schriften zu beschäftigen, die darüber entscheidet, ob wir eine gut 50 Jahre alte TCM praktizieren oder eine Jahrtausende alte chinesische Medizin. Von der pessimistischen Beerdigungsstimmung, die führende westliche Intellektuelle in den letzten Jahren in entfacht haben, möchte ich mich nicht anstecken lassen. Stattdessen möchte sich sagen, es gibt noch Hoffnung und es liegt nicht zuletzt am Engagement jedes Einzelnen – gleich, ob hier im Westen oder in China.
Andreas Kalg